In der vergangenen Woche haben die Bullen begonnen, das besetzte Dorf in Lützerath zu räumen. Die letzten AktivistiX widersetzen sich weiterhin gegen die Räumung (Stand Sonntag, den 15. Januar 12:00 Uhr). Die Bullen handelten wieder einmal im Auftrag von RWE, den Grünen, der SPD, der FDP und der CDU und deren jeweiligen Regierungskoalitionen in Land und Bund. Erste Gedanken von Riot Turtle zu den Ereignissen im Rheinland, nach einer Reise, die in der Ukraine begann, über Marokko führte und am Zaun um Lützerath endete.
Am 27. Dezember fuhr ich in die Ukraine, um Hilfsgüter zu bringen. Es war das siebte Mal, dass ich in die Ukraine fuhr, seit die aktuelle Phase des Krieges am 24. Februar 2022 begann. Diesmal war es ein kurzer Besuch, wir lieferten die Hilfsgüter in Kyiv ab und verließen die Ukraine bereits am nächsten Tag. Endlich würde ich mal wieder Urlaub haben. Der erste seit ein paar Jahren, und ich musste mich dringend erholen. Nach der verlorenen Kampf um das Wuppertaler Osterholz und der Arbeit in der Ukraine war mein Akku völlig leer. In den Wochen vor meinem Urlaub begann ich zu zweifeln. Ich war kurz davor, meinen Urlaub wieder zu streichen. Lützerath war akut räumungsgefährdet… Aber im Gegensatz zu den letzten Jahren beschloss ich das ich in Urlaub fahren würde. Also fuhren wir von Kyiv nach Marokko.
Das war eine weise Entscheidung. Seit ich auf dem deutschen Kartoffelacker lebe, vermisse ich das Meer sehr. Die meisten Menschen, die ich kenne, die in der Nähe des Meeres gelebt haben, vermissen das Meer immer, wenn sie von dort wegziehen. Die Meeresbrise, der Geruch des Meeres und die Pause vom Schreiben, Übersetzen und Lesen von „schlechten Nachrichten“ haben mir geholfen, meine Batterien in Marokko wieder aufzuladen. Nach der Arbeit in der Ukraine und einer langen Reihe von Niederlagen und Durchhalteparolen wie „Raus aus der Defensive“ und „We are unstoppable„, die die Krise dessen, was von der Autonomer Resten und Klimabewegung in diesem Land übrig geblieben ist, nicht verbergen konnten, brauchte ich diese Pause.
In Marokko habe ich die Auseinandersetzungen am Silvesterabend in Berlin verpasst. Sebastian Lotzer schrieb einen interessanten Artikel über die Ereignisse in der Berliner Silvesternacht, den ich las, als ich zurückkam: Berlin grüßt Athena. Auch in Berlin, auch wenn viele „Linke“ und AnarchistiX nichts mit den Auseinandersetzungen in Berlin anfangen können, auch am Silvester wurde deutlich: The Kids are alright.
„Jeder, der wissen wollte, wusste was passieren wird. Wer auf den Straßen dieser Stadt unterwegs ist, sich außerhalb seiner Wohlfühlblase bewegt, sich mit den proletarischen Jugendlichen unterhält, wusste, dass die Nacht der Abrechnung gekommen war.“
Sebastian Lotzer in Berlin grüßt Athena
Inzwischen wurde immer deutlicher, dass die Räumung Lützeraths noch vor dem oft genannten Termin am 14. Januar beginnen würde. Wir waren in Essaouira, als die Bullen begannen, das besetzte Dorf im Rheinland anzugreifen, und wir beschlossen, nach Rabat zu fahren, dort zwei Tage zu bleiben und dann so schnell wie möglich ins selbsternannte „Abendland“ zurückzufahren. In Lützerath brennen inzwischen die ersten Barrikaden. Wir fuhren in 37 Stunden zurück und die ersten unserer Bezugsgruppe fuhren noch am selben Tag ins Rheinland. Dank der „Guarana-Energieriegel“, die wir in Rabat gekauft hatten. Ich musste erst einmal schlafen und stieß am nächsten Tag zu den anderen.
Als ich ankam, waren viele Strukturen in Lützerath bereits geräumt. Doch trotz massiver Polizeigewalt leisteten viele Menschen weiterhin Widerstand gegen die Räumung. Die Bullen haben u.a. große Probleme, die AktivistiX Pinky und Brain zu räumen, die in einem Tunnelsystem unter Lützerath Widerstand leisten.In der Tage zuvor war es auch zu kleineren Zusammenstößen mit den Bullen gekommen, bei denen auch einige Molotows flogen. Endlich nahm das Konzept der Vielfalt der Taktiken in der deutschen Klimagerechtigkeitsbewegung konkrete Formen an. Natürlich gab es immer noch Linksliberale, die „Keine Steine“ skandierten. Aber im Großen und Ganzen haben viele Leute, die selbst keine militanten Taktiken anwenden wollen, akzeptiert, dass andere das tun. Dies könnte der wichtigste Schritt in Lützerath sein, denn eine breite Bewegung, die eine Vielzahl von Taktiken anwendet, ist für unsere Gegner*innen schwer einzuschätzen.
Nach meiner Ankunft erkundigte ich mich nach dem aktuellen Stand der Dinge. Wir beschlossen, einen Spaziergang zu machen, um zu sehen, wo und wie die Bullen positioniert und aufgestellt waren. Aber auch um die Umgebung besser kennenzulernen. Ich kannte zwar Lützerath, aber nicht das benachbarte Dorf Keyenberg, wo sich das Camp befand. Ich wollte auch sehen, welche Geräte und Fahrzeuge (Wasserwerfer?, Räumpanzer?) sie benutzen, zumindest was davon zu sehen war, und wie sie reagieren würden, wenn wir uns Lützerath nähern würden.
Die Bullen waren überall in und vor allem um Keyenberg. Aber sie haben uns nicht angehalten, keine Durchsuchungen, keine Ausweiskontrollen, nichts. Es schien, als ob sie nur versuchten, die Leute mit der Anwesenheit einer Überzahl von Bullen einzuschüchtern. Netter Versuch. Wir kamen an einen Feldweg, der nach Lützerath führt. Dort wurden wir von RWE Securities gestoppt. Da auch viele Bereitschaftsbullen in der Nähe waren und wir nur mit 3 Personen unterwegs waren, beschlossen wir, zum Camp zurückzukehren. Für mich war es okay, denn ich hatte jetzt einen guten Überblick über die Umgebung von Keyenberg.
Etwa eine Stunde später startete eine Greenpeace-Demo in Richtung Lützerath. Als die Demo endete, gab es eine kurze Spontandemo, die etwas näher an Lützerath herankam. Aber wegen eines Overkills an Bullen endete diese Demo nur 200 Meter weiter. Zwei Stunden später startete eine zweite Demo von Keyenberg in Richtung Lützerath. Auch diese Demo erreichte das besetzte Dorf nicht, aber es war trotzdem gut, die Bullen zu beschäftigen. Um sicherzustellen, dass sie sich nicht nur auf die Räumung selbst konzentrieren können.
In den frühen Abendstunden begrüßte ich Tadzio Müller kurz, der ein paar Stunden zuvor in Lützerath geräumt wurde. Tadzio schrieb darüber u.a.:
„Eine überraschend gechillte Truppe Cops enterte das Haus, fand Antonio und mich gechillt herumsitzend vor, und eine knappe Stunde später standen wir ohne ED-Behandlung, ohne Leibesvisite und Durchsuchung, ohne Strafanzeige auf der falsche Seite des Zauns. Uns geht es gut, mir geht es, i’m as happy an activist as I haven’t been in years. Ein Journalist fragte mich, ob ich denn nun meinen Glauben wiedergefunden hätte. I don’t know, ich muss noch verarbeiten, was hier passiert ist. Aber eines weiß ich: ich habe die Bewegung wiedergefunden, und ich glaube, sie hat mich wieder aufgenommen. So hat es sich zumindest angefühlt, und ich bin so unglaublich dankbar dafür. I’m home again (starts crying with relief and exhaustion).„
Tadzio Müller in Live aus Lützerath #5: Lützerath lives!
Ich weiß nicht, ob es die neue Kraft nach meinem Urlaub war, oder ob es wirklich die Stimmung war, die an meinem ersten Tag im Rheinland herrschte, aber irgendwie war die Stimmung, abgesehen von der Wut über die Räumung und die Polizeigewalt, positiv. Da die heutigen Demos nicht stark genug waren, um die Polizeilinien zu durchbrechen und nach Lützerath zu ziehen, würde alles von der morgigen Demo abhängen. Für diese Demo wurde bereits seit vielen Wochen mobilisiert. Überall in Keyenberg sah ich Gruppen, die sich trafen, um sich auf die morgige Großdemo vorzubereiten. Viele Gesichter sahen entschlossen aus.Ich beschloss früh schlafen zu gehen, um fit für die Demo zu sein. Für mich war das wichtig, denn ich bin ja nicht mehr der Jüngste und erste Aufrufe machten die Runde, dass wir uns alle morgen in Lützerath treffen würden… Wir wussten alle, dass es zu einer Konfrontation mit den Bullen kommen würde, da sie uns mit Sicherheit nicht zum Dorf durchlassen würden.
Am nächsten Tag stand ich sehr früh auf. Bereit für den Showdown. Wir überprüften, ob wir alles Nötige dabei hatten und ob wir genug zu essen und zu trinken dabei hatten, falls wir für längere Zeit in einen Kessel geraten würden. Viele Leute schienen bereit zu sein, ich sah sogar „Fridays for Future“-Kids, die komplett in Schwarz gekleidet und maskiert waren. Die grüne FFF Fahne wehte noch, aber hat seine Unschuld im Kampf gegen die fossile Industrie längst verloren. Nochmals: The Kids are alright!
Wir gingen zum Treffpunkt für die Demo. Zehntausende waren dem Aufruf gefolgt. Ich schätze etwa 30.000 Menschen. Es war eine bunte Menge, aber es gab auch Menschen, die komplett in Schwarz gekleidet waren. Bunt oder in Schwarz, viele Menschen waren maskiert. FFF-Kids, AnarchistiX, einige verirrte Grüne (sie scheinen zu vergessen, dass die Grünen nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems sind), Unterstützer*innen von Umwelt-NGOs, Ende Gelände-AktivistiX… Kurzum, alle waren da, ein großer politischer Schlag für die sowohl in Land NRW, als auch im Bund regierenden Grünen, die für die Ausweitung des Braunkohleabbaus durch RWE und damit auch für die Räumung und Abriss von Lützerath mitverantwortlich sind.
Mit einer kurzen Verspätung aufgrund der hohen Teilnehmer*innen zahl setzte sich die Demo in Bewegung. Die Demo zog durch Keyenberg in Richtung Lützerath. Einer der verbliebenen Bewohner*innen von Keyenberg hing aus dem Fenster und applaudierte für die Demonstrant*innen. Kurz nachdem die Demo den Keyenberg verlassen hatte, wir hatten ca. 1 Kilometer gelaufen, begannen die ersten Leute die Straße zu verlassen und gingen auf die Felder in Richtung RWEs Tagebau und Lützerath. Zu meiner Überraschung folgten Tausende von Menschen. Sie alle verließen die offizielle Demoroute und zogen in Richtung Lützerath. Am Ende waren es weit mehr als die Hälfte der 30.000 Demonstrant*innen, die in der „Verbotszone“ Richtung Lützerath zogen, was bereits ein Akt des zivilen Ungehorsams war.
Anfangs liefen viele Menschen weg, als die Bullen einen ihrer brutalen Angriffe auf die Menschenmenge durchführten, aber die Wut wurde immer größer. Die Bullen versuchten, zwar die Leute gewaltsam aufzuhalten, waren aber völlig überfordert. Teile der Menge bildeten Ketten und drängten die Bullen zurück. Ein Typ kam aus der primera linea zurück, sein Kopf war blutverschmiert. Demo-Sanis müssen immer mehr Menschen behandeln. Immer mehr Feuerwerkskörper flogen in die Luft, Flaschen und andere Gegenstände wurden auf die Bullen geworfen. Die Polizeiketten wurden immer wieder durchbrochen. Die Bullen verloren mehr und mehr die Kontrolle. Sie reagierten mit noch mehr völlig sinnloser Gewalt, da viele Menschen bereits viele ihre Linien durchbrochen hatten. Das führte nur dazu, dass die Wut noch größer wurde. Eine Reihe von Bullenwagen, die im Dienst der von RWE begangenen Klimaverbrechen eingesetzt werden, wurden beschädigt. Schließlich gelang es der Menge, eine Reihe von Polizeiketten zu überwinden, wurde aber an der letzten Linie vor dem Zaun gestoppt, den die Bullen um Lützerath errichtet hatten. Besetzer*innen, die noch im Dorf ausharrten, winkten der Menge von Dächern und einem riesigen Tripod zu.
Auch wenn es den AktivistiX nicht gelungen ist, physisch in Lützerath einzudringen, ist der politische Schaden für die Grünen enorm. Mitten in der Krise ist es der Klimabewegung gelungen, 30.000 Menschen zu mobilisieren. Viele von ihnen beschlossen, gegen das Gesetz zu verstoßen, indem sie in die „Verbotszone“ zogen, ohne sich von der massiven Polizeigewalt einschüchtern zu lassen, mehrere Polizeiketten durchbrachen und sich mit einer Vielzahl von Taktiken verteidigten. Die überforderten Bullen zeigten, dass die fossile Industrie und ihre Lakaien in Regierungen und Parlamenten diesen Konflikt nicht mit ihren üblichen Konzepten lösen können.
Die Klimabewegung hat noch einen weiten Weg vor sich, die Erweiterung des Tagebaus Garzweiler 2 bedeutet auch, dass das sogenannte 1,5-Grad-Ziel nicht erreicht werden kann. Persönlich bin ich schon vor der Räumung von Lützerath zu dem Schluss gekommen, dass das 1,5 Grad Ziel nach einem Jahr, in dem die Investitionen in fossile Infrastruktur hierzulande in die Höhe geschnellt sind, nicht erreicht werden kann. Die neuen LNG-Terminals und Pipelines und damit Fracking lassen grüßen. Der Staat und die Nutzniesser*innen des Kapitals haben längst beschlossen, ihren tödlichen Kurs fortzusetzen.
Der Staat weiß, dass er sich in Zeiten multipler Krisen nur mit mehr Autoritarismus durchsetzen kann. Die Klimakrise wird sich noch weiter verschärfen und der Widerstand wird wachsen. Sie muss offen sein für eine Vielfalt von Taktiken, auch für militante. Wir sollten die Gefahr von faschistoiden Tendenzen nicht unterschätzen, die die Agenda einiger Großkonzerne durchsetzen könnten. Viele der Jugendlichen, die in der Silvesternacht in Berlin randaliert haben, haben bereits die Erfahrung gemacht, wie eine autoritäre Polizeiarmee sie tagtäglich drangsaliert. Die Silvesternacht war das Ergebnis davon. Das bedeutet auch, dass wir versuchen müssen zu verstehen, was in der Silvesternacht in Berlin passiert ist. Nicht aus Medienberichten. Redet mit den Leuten!
Wenn die Klimabewegung erfolgreich sein will, muss sie geeint sein, wenn wir uns spalten, werden wir scheitern. In dem derzeitigen politischen und wirtschaftlichen System können wir nicht gewinnen. Wir müssen gegen jeden Anstieg von jeden 0,1 Grad kämpfen. Dauerhaft und kontinuierlich und versuchen, aus unserer eigenen Blasen auszubrechen. Um diesen Kampf in einer Welt mit wachsenden autoritären Tendenzen zu gewinnen. Die präventive Inhaftierung von AktivistiX der letzten Generation und anderen ist nur der Anfang. Wir müssen Allianzen bilden, die über unsere derzeitige Vorstellungskraft hinausgehen. Wir müssen uns auch Athena umarmen. Auch, aber nicht nur. Einer der Schlüssel zum Gewinnen dieses Kampfes ist die Akzeptanz und Anwendung verschiedener Taktiken und Ansätze. Aber wir müssen uns auch bewusst sein, dass wir gegen den Staat, das Kapital und ihre autoritäre und zerstörerische Herangehensweise in Bezug auf das Klima im Allgemeinen kämpfen müssen, sonst werden wir zerschlagen.
Gestern war ein guter Tag für die Klimabewegung. Aber mit einer viel zu hohen Zahl von Verletzten, die vielleicht geringer ausgefallen wäre, wenn mehr Menschen entschlossener und militanter vorgegangen wären, um die Bullen auf Distanz zu halten. Wir werden es nie wissen, aber wir sollten diesen Punkt in unseren Nachbesprechungen diskutieren. Ich wünsche allen Verletzten, dass sie wieder gesund werden. Danke an alle, die gestern dabei waren, Solidarität mit den Verhafteten und denen, die nach den gestrigen Ereignissen angezeigt wurden oder noch werden. Das wünsche ich auch den Verletzten und Festgenommenen der Silvesternacht in Berlin.
Riot Turtle, 15. Januar, 2023