Für immer ist vorbei (Elia Ayoub)

Menschen aus dem Westen, auch ich, haben oft einen Tunnelblick auf Dinge, die in anderen Teilen der Welt passieren. Wir betrachten sie aus unserer Realität, aus unserer Perspektive. Einer der Gründe, warum ich schon vor Jahrzehnten mit dem Übersetzen begonnen habe, ist das meiner Meinung nach, Menschen, die vor Ort leben oder gelebt haben, viel besser verstehen, was in diesen Gesellschaften vor sich geht.

In den Jahren, in denen ich viel mit ‚People on the move‘ gearbeitet habe, hatte ich viele interessante Gespräche und habe viel gelernt. Seitdem versuche ich noch mehr auf die Stimmen der Menschen zu hören, die aus der Region kommen, in der die Dinge geschehen. Ich erhielt eine Einladung, einen Freund nach Syrien zu begleiten, den ich 2016 im „wilden“ Flüchtlingslager Idomeni kennengelernt hatte. Wir müssen viele Details vorbereiten, aber auch darauf achten, dass wir einen Informationsfluss von Menschen bekommen, die die Situation vor Ort auf verschiedenen Ebenen kennen. 

Wie auch immer: Dies ist ein weiterer Grund, warum es meinem Blog in den kommenden Monaten weitere Übersetzungen aus der Maschrik-Region geben wird.

Es folgt ein Beitrag von Elia Ayoub, einem antiautoritären Schriftsteller, der über Beobachtungen im Maschrik (Libanon, Syrien, Israel-Palästina) schreibt.

Dieser Beitrag wurde ursprünglich am 09. Dezember 2024 auf Hauntologies veroffentlicht. Geschrieben von Elia Ayoub. Übersetzt von Riot Turtle.

Zum Sturz von Bashar Al-Assad

Bei der Einreise nach Syrien wird man mit einem der bekanntesten Sätze des Assad-Regimes „begrüßt“: „Unser Führer für immer, Hafez al-Assad“. (1)

Diese Politik der Ewigkeit war ein fester Bestandteil der Assad-Dynastie, die über fünf Jahrzehnte lang in Syrien herrschte – bis gestern. Wie sich herausstellte, ist die Ewigkeit nicht so ewig.

Die Assads, erst der Vater und dann der Sohn, setzten alles daran, ein Bild der Ewigkeit zu projizieren. Sie wollten es praktisch unmöglich machen, sich ein Syrien ohne sie vorzustellen. In ihren Augen beginnt und endet Syrien mit Assad. Aus diesem Grund schmierten seine Schabbiha-Loyalisten „Assad oder wir verbrennen das Land “(2) an die Wände belagerter Städte. Das war eine besonders merkwürdige Formulierung, weil sie nie einen Unterschied zwischen Assad und Syrien gemacht haben. Das Land“ ist hier das projizierte Land, für das Revolutionär*innen, Demonstrant*innen und bewaffnete Rebell*innen gleichermaßen kämpften.

Für die Assadist*innen haben diese anderen Menschen nicht für Syrien gekämpft. Wie sollten das gehen, denn für sie ist Assad Syrien.

Entschuldigung, war.

Sie haben sich geirrt, und die Sache ist die: Diktator*innen und ihre Apologet*innen haben etwas mit den meisten von uns gemeinsam, nämlich dass sie die Zukunft schlecht vorhersagen können. Hitlers tausendjähriges Reich dauerte 12 Jahre. Die Assads wollten offenbar ehrgeiziger sein und strebten die… Ewigkeit an.

Wie hat das Assad-Regime für die Ewigkeit geplant? Sicherlich, so könnte man meinen, hatten sie einen langfristigen Plan. Vergessen Sie hier die sowjetische Planung. Die waren jeweils für fünf Jahre ausgelegt. (3) Die Assads sagten, für immer. Das Jahr 2318? Ja, wir sind noch da. 3225? Ja, natürlich. Wir stellen Ihnen Bashar Hafez Assad den 42. vor, oder so ähnlich.

Sie haben sich geirrt. Bashar hat es nicht einmal so lange ausgehalten wie sein Vater (yel3an roo7ak ya) Hafez, und er versteckt sich jetzt in Moskau wie der Feigling, der er ist. Die Kinder, die 2011 den Satz „Du bist der Nächste, Doktor “(4) an die Mauern von Daraa geschmiert haben, hatten Recht.

Objektiv können wir jetzt sagen, dass diese Kinder die Zukunft Syriens besser vorhersagen konnten als der Diktator des Landes. Als Reaktion darauf ordnete Assad die Massenverhaftung und Massenfolterung von 23 Schüler*innen an – aber er lag trotzdem falsch.

Die oben erwähnte Mauer in Daraa.

Was hat Bashar also falsch gemacht? Im Jahr 2011 traf er eine Entscheidung. Er beschloss, den friedlichen Aufstand gegen sein Regime mit maximaler Gewalt niederzuschlagen, einen Aufstand, der anfangs nicht einmal immer zur Revolution aufrief. Assad beschloss, einen 13-jährigen Jungen, Hamza Al-Khateeb, zu foltern und seinen verstümmelten Körper an seine Familie zu übergeben, um eine Botschaft zu übermitteln. Die Botschaft kam an, aber statt dass das Regime sie zum Schweigen gebracht hatte, revoltierten die Syrer*innen in noch größerer Zahl.

Hamza Al-Khateeb. Es gibt auch ein Foto seiner verstümmelten Leiche, aber das werde ich nicht veröffentlichen.

Assad hat dies in großem Stil getan. Die Zahl der vom Assad-Regime ermordeten Syrer*innen ist nicht bekannt, dürfte aber in die Hunderttausende gehen. Möglicherweise sind es sogar eine Million. Die Vereinten Nationen haben 2014 aufgehört zu zählen, als die Zahl der Toten über 100.000 lag. Für 2021 schätzten sie die Zahl auf über 300.000. Wir wissen es einfach nicht, aber seid euch im Klaren, dass in einem einzigen Gefängnis, Saidnaya, allein zwischen 2011 und 2015 schätzungsweise 13.000 Menschen gehängt wurden. Das war vor acht Jahren, und während ich diese Zeilen schreibe, finden wir immer noch Leichen von Syrer*innen, die in Saidnaya getötet wurden.

Das war also Bashars Plan. Es war ein einfacher Plan. So viele Menschen wie möglich töten, foltern, ins Exil schicken und verschwinden lassen. Er hätte 2011 zurücktreten und seine Milliarden nutzen können, um auf einer Insel oder in den Vereinigten Arabischen Emiraten seinen Lebensabend zu verbringen. Aber nein, er ließ die Armee und seine Shabbiha auf Kinder, Männer und Frauen los und baute einen umfangreichen Gefängnisapparat auf, um die von seinem Staat gewaltsam Verschwundenen zu entsorgen. Sein Bruder, Maher Assad, ließ einen gigantischen Bunker bauen. Der Bunker war offensichtlich dafür gedacht, dass er fast alles überleben konnte, einschließlich (so vermute ich) einer nuklearen Apokalypse – und dennoch dauerte es etwa 10 Tage, bis Rebell*innen Damaskus erreichten und Maher auf die gleiche feige Art und Weise wie sein Bruder Bashar entkam.

Es ist erwähnenswert, dass Bashars Plan von Anfang an gescheitert ist. Er brauchte sehr schnell die Hilfe der Hisbollah und des Iran, und selbst das reichte nicht aus. Deshalb hat Russland 2015 interveniert. Assad war von Anfang an und trotz seiner vollständigen Lufthoheit nicht in der Lage, eine lose organisierte Gruppe von Rebell*innen zu besiegen, die größtenteils mit älteren Waffen bewaffnet waren (darunter auch vom Regime selbst gestohlene Waffen). Diese Zahlen wurden durch die Zahl der Menschen, die aus Syrien flohen, in den Schatten gestellt. Mit anderen Worten, es gab relativ gesehen nur sehr wenige Menschen, die tatsächlich bereit waren, für Baschar zu sterben.

Vergleicht man den raschen Zusammenbruch seiner Armee mit dem Mut, den es braucht, um als unbewaffnete Demonstrant*in zu rebellieren, obwohl man sich bewusst ist, wie das Regime vorgeht.

Ich denke oft an einen Kurzfilm, den Bassel Shehadeh an Weihnachten 2011(5) drehte, in dem er und seine Freund*innen die Scharfschützen des Regimes mit einem damals beliebten Sprechchor verhöhnen: „Freiheit für immer, trotz dir Assad“. (6) Das war ein weiterer Appell an die Zeitlichkeit der Ewigkeit. Das syrische Regime sagte ihnen, dass Hafez der ewige Herrscher sei, und sie antworteten mit einem schallenden Nein.

Hier ist der gleiche Sprechchor im Jahr 2012:

Ich weiß nicht, ob Freiheit ewig währt, aber ich kann wieder einmal feststellen, dass diese Syrer*innen jetzt eine bessere Erfolgsbilanz haben als das Assad-Regime selbst. Das Regime behauptete, dass es ewig bestehen würde. Diese Syrer*innen erklärten, dass es das nicht wird. Sie hatten Recht, und das Assad-Regime lag falsch.

In gewisser Weise wusste das Regime das wahrscheinlich auch, weshalb es „konventionellere“ Instrumente der staatlichen Repression wie die Armee und Knäste einsetzte. Es ging nicht „nur“ darum, dafür zu sorgen, dass jede(r) bestraft wurde, der es wagte, das Zeitkonzept des Staates in Frage zu stellen, sondern auch diejenigen, die es nicht taten. Das Regime bestrafte und tötete nicht nur diejenigen, die Widerstand leisteten. Es bestrafte und tötete auch wahllos Zivilist*innen. Bashar musste, wie schon sein Vater, ein Bild der Allmacht vermitteln: Jeder kann überall bestraft werden, wenn ich es will. Das war die Macht, wie Assad sie sah, und sie funktionierte zwei Generationen lang – bis sie es nicht mehr tat.

Es liegt etwas zutiefst Hoffnungsvolles in der Tatsache, dass Machthaber selbst furchtbar schlecht darin sind, die Zukunft vorauszusagen, einschließlich ihres eigenen Überlebens. Deshalb setzen sie so viele Mittel ein, um die Vergangenheit und die Zukunft zu kontrollieren, und deshalb war die alternative grün-weiß-schwarze Flagge für das Assad-Regime immer so gefährlich: Sie ist die Flagge der Unabhängigkeit, die in Syrien vor der Übernahme des Baath-Regimes verwendet wurde. Mit der Zeit symbolisierte sie nicht länger eine Flagge der Vergangenheit. Sie wurde die Flagge der Gegenwart. Die Menschen gründeten Gemeinschaftsgärten und Suppenküchen, Bibliotheken in Gemeinschaftsbesitz und kostenlose Erste-Hilfe-Kliniken und nutzten diese Flagge, um anderen zu signalisieren, dass es hier einen Ort gibt, an dem man sich sicher fühlen kann, einen Ort, an dem man eine Gemeinschaft finden kann. (7)

Vergleiche das mit dem, wofür die Flagge der Assadist*innen verwendet wurde. Die Syrer*innen haben diese Flagge nicht über Suppenküchen gehängt. Sie war nicht dazu da, einen Treffpunkt zu symbolisieren, an dem über die Zukunft Syriens diskutiert wurde. Sie sollte jeden, der vorbeikam, daran erinnern, dass der Staat hier präsent ist und dass man deshalb den Kopf senken und sich unterordnen muss.

Diese Flagge ist nun Geschichte, ebenso wie das Assad-Regime selbst, das 54 Jahre lang „ewig“ an der Macht war.

Elia Ayoub

Fußnoten

(1) Es reimt sich auf Arabisch: Qa’id ila al-abad, al-amin Hafez al-Assad (Ewiger Führer, Al-Amin Hafez Al-Assad) (قائد إلى الأبد، الأمين حافظ الأسد)

(2) Auch der Titel eines Buches von x, das ich für Y rezensiert habe

(3) Irgendwie – Stalin hoffte auf seine eigene ewige Herrschaft

(4) Es ist eine Anspielung darauf, dass Assad Augenarzt ist. Nein, das ist kein Scherz.

(5) Ein genauerer Blick auf diesen Film, Bassel und Homs wird das Thema des nächsten Beitrags sein

(6) Das reimt sich auch auf Arabisch: Hurryeh lel’abad, ghasben 3annak ya Assad ((Für immer frei, gegen dein Willen, Löwe) (حرية للأبد، غصبًا عنك يا أسد)

(7) Das soll nicht heißen, dass nicht auch zwielichtige Akteure die gleiche Flagge verwenden, wie die von der Türkei unterstützte SNA heute demonstriert.